Sag mal, fühlst du dich wertvoll? Und wenn ja, wodurch? Welche Einstellung hast du zu dir selbst und findest du dich selbst wertvoll? Wodurch definierst du, ob und unter welchen Voraussetzungen du wertvoll bist? Und wie sehen dich andere? Machst du deinen Wert von ihrer Meinung abhängig? Oder hast du selbst klare Vorstellungen davon, was du leisten oder erreichen musst, um mit dir selbst zufrieden zu sein? Lässt du deine Eltern oder Freunde entscheiden, ob du wertvoll bist? Oder vielleicht sogar irgendwelche fremden Menschen, die dich gar nicht wirklich kennen? Wie kommst du zu deinem eigenen Urteil über dich und deinen Wert? Wer legt da den Maßstab?
Unsere Gesellschaft hat meist klare Vorstellungen davon, welche Menschen in ihren Augen als wertvoller oder weniger wertvoll angesehen werden. Einer mit Hochschulabschluss oder sogar Doktorgrad ist ganz klar wertvoller, als ein wenig gebildeter, der nur irgendwo Hilfsarbeiten verrichtet. Was dieser sagt oder tut hat viel mehr Gewicht oder Aussagekraft. Ebenso ist es mit einem, der gut situiert ist mit tollem Haus, schickem Auto und gutem Einkommen – im Vergleich zum Sozialhilfeempfänger mit rostigem Fahrrad. Ein Gesunder ist ebenso begehrter, als ein chronisch Kranker mit vielen Handikaps und ständig Schmerzen. Ein glücklich Verheirateter ist angesehener, als ein geschiedener Alleinerziehender. Den Wert, den unsere Gesellschaft seinen Mitgliedern schlussendlich zuspricht, vermittelt jeder dann eindeutig durch sein Verhalten: Der Eine wird zur Geburtstagsfeier eingeladen, der Andere nicht. Mit dem Einen redet man gern, den Anderen lässt man in der Ecke stehen oder würgt ihn ab. Der Eine wird ernst genommen, der Andere bekommt höchstens eine hochgezogene Augenbraue. Der Eine darf Teil der Gemeinschaft sein, der Andere wird eiskalt ausgeschlossen. Abgelehnt. Wertlos gesprochen.
Weil es in einer Gesellschaft stets um unterschiedliche Gruppenkonstellationen handelt, bildet sich nun zusätzlich ganz spezielle Gruppendynamiken: Jeder, der das macht, was die Gruppe macht, ist gut und wird von der Gruppe akzeptiert. Wer sich nicht darum bemüht, dazuzugehören und sich nicht anpasst, der wird zum Außenseiter degradiert. Dabei müssen die Gruppenmitglieder gar nicht besonders toll oder charakterlich stark sein. Im Gegenteil: jeder, der sich der Gruppe unterordnet und ihr bedingungslose Loyalität schwört, der gehört oft automatisch dazu und darf von den Vorzügen der Gruppe profitieren. Alle Außenseiter und Individualisten werden aktiv oder passiv von der Gruppe bekämpft. Das sichert das Bestehen und die Macht der Gruppe. Jeder, der sich gegen die Regeln der Gruppe auflehnt, stellt eine Gefahr für dieselbe dar, weil er ihr Wertesystem infrage stellen. Denn Einzelgänger setzen oft auf Werte, Charakter und Rückgrat. Die Gruppe punktet lediglich mit zahlmäßiger Überlegenheit. Und diese Karte spielt sie aus, so gut sie kann. Oft erfolgreich. Denn es gibt viele, die sich dem Gruppendruck beugen, weil sie sich dem nicht gewachsen fühlen, der Gruppe entgegenzustehen. Damit wird diese immer größer und stärker. Und jeder, der dazu gehört, verteidigt diesen Schutzraum, der ihm im Gegenzug seinen Wert gibt.
Aber wie ist das jetzt mit dir? Wie reagierst du darauf, wenn du abgelehnt wirst? Wenn du weißt, du passt nicht ins definierte Wertesystem der Gesellschaft? Wenn die Gesellschaft dir deinen Wert einfach mal so abspricht? Wer entscheidet dann, wie wertvoll du bist? Oder du dich selbst fühlst? Mir ist in dem Zusammenhang aufgefallen, dass wir uns in unserem eigenen Denken und Urteilen unglaublich von dem beeinflussen lassen, was andere von uns denken und uns mit ihrem Handeln vermitteln. Seit ich wieder studiere fühle ich mich um einiges angesehener und „wertvoller“, als damals, als ich noch „nur“ eine Ausbildung hatte und irgendwo in Teilzeit arbeitete oder Sozialgeld bezog. Seit ich wieder einen Partner habe fühle ich mich „wertvoller“, als damals, als ich noch „nur“ geschieden und allein war. Wenn mich jemand einlädt fühle ich mich „wertvoller“, als wenn mich anscheinend niemand dabeihaben will. Ich weiß, ich bin dadurch kein anderer Mensch … und ich denke auch nicht, dass ich dadurch nun tatsächlich „wertvoller“ bin – aber ich fühle mich so! Das ist Tatsache.
Doch das Thema „Gruppe“ steht bei mir auf einem anderen Papier: Ich selbst habe mich schon sehr früh dagegen entschieden, irgendwelche Dinge nur zu tun, um irgendwo dazuzugehören. Ich wollte immer lieber „Individualistin“ sein, als mich einer Gruppe unterzuordnen und Dinge mitzumachen, die ich eigentlich ablehne. Ich konnte Partys nie etwas abgewinnen, Alkohol und Zigaretten auch nicht – und ich hatte auch sonst irgendwie kein wirkliches Interesse daran, „in“ oder „cool“ oder „angesagt“ zu sein. Dies hatte allerdings seinen Preis. Es führte immer zu der Konsequenz, dass ich Außenseiterin war. Praktisch vogelfrei. Immer in der Kritik und dem Angriffswinkel der Gruppe, die mich fühlen lassen wollte, was es bedeutete, nicht zu ihr dazugehören zu wollen. Was es hieß, sich ihr entgegenzustellen. Als Abschreckung auch für andere. Es war, wie ein dauerndes Kräftemessen: Bekommt mich die Gruppe in die Knie gezwungen, oder schaffe ich es, stand zu halten. Bin ich selbstbewusst genug, um mich weiter wertvoll zu fühlen, auch wenn die Gruppe mir mit ihrer vollen Breitseite vermittelt: „Du bist in unseren Augen nur wertvoll, wenn du dazugehörst!“?
Für mich ist es auch heute immer wieder ein Kampf, mich von der Meinung und Behandlung „der Gruppe“ nicht runterziehen oder entwerten zu lassen. Doch im Grunde ist es nur ein perfides Machtspiel, das man einfach auch lernen muss, zu durchschauen. Dann erkennst du nämlich, dass du NICHT wertlos bist, obgleich es dir vermittelt wird. Sondern dass die Gruppe dir dies lediglich vermitteln möchte, um ihr eigenes Wertsystem und Machtgefüge aufrechtzuerhalten. Es ist eine intrigante, manipulative und narzisstische Taktik. Denn die Gruppenmitglieder einer solchen Gruppe haben an sich keinen „besonderen Eigenwert“ aufzuweisen – erst recht keinen größeren, als deinen. Sie sind eigentlich ganz normal. Doch die Gruppe ist ein sehr mächtiges Konstrukt, das fähig ist, ihren Wert fiktiv ins unermessliche zu steigern, je nachdem, wie groß die Gruppe ist. Und das möchte natürlich jeder für sich selbst bestmöglich nutzen.
Darum bewundere ich Menschen, die den Mut haben und die Standhaftigkeit, sich trotz allem diesen großen „allgemeinen“ Gesellschaftsgruppen entgegenzustellen und sich ihnen nicht zu beugen. Die ihr Rückgrat höher schätzen, als den Coolnessgrad, den ihnen eine Gruppe verleiht. Die sich selbst größere Treue beweisen, als einer Gesellschaft. Die die Stärke besitzen, allein gegen die Masse zu stehen und sich nicht vor der Konfrontation drücken, indem sie sich unterwerfen. Mich begeistern Menschen, die für höhere Werte und Überzeugungen eintreten, anstatt sich von anderen ein hohles Wertesystem überstülpen zu lassen – oder anderen eines überstülpen. Es ist traurig, dass solche Menschen in den Augen unserer Gesellschaft nicht wirklich als „wertvoll“ angesehen werden und sogar verachtet werden. Doch jeder, der ein solcher Mensch ist, darf sich absolut wertvoll fühlen! Es sind seltene Juwelen, ohne die unsere Gesellschaft verdammt arm wäre.
Kommentare zu diesem Blogeintrag
Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Blogeintrag.