Als gute Christen sind wir gewohnt, unser Leben immer wieder unter dem Blickwinkel der Barmherzigkeit Gottes zu sehen oder – um einen biblischen Ausdruck zu verwenden - „im Licht der Gnade“. Das ist richtig, aber unter Umständen auch gefährlich. Die Gnade ist ja kein Ruhekissen, sie ist auch kein fliegender Teppich, der uns unbeschadet in eine bessere Welt versetzt. Die Gnade ist vielmehr eine immer wieder geschenkte Chance, die uns ermutigt und befähigt, einen ganzen Einsatz zu leisten. „Und sehet zu, daß nicht jemand hinter der Gnade Gottes zurückbleibt“ (Hebr 12:15)
Jagt dem Frieden mit allen nach und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn schauen wird;
15 und achtet darauf, dass nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leidet, dass nicht irgendeine Wurzel der Bitterkeit aufsprosst und ⟨euch⟩ zur Last wird und durch sie viele verunreinigt werden; (Hebr 12:14-15, Elb)
Unser Textabschnitt, überhaupt der gesamte Hebräerbrief wendet sich an Christen, die müde und gleichgültig geworden sind. Der Schreiber des Briefes versucht mit allen Mitteln seelsorgerlicher Beredsamkeit, seine Leser wieder zum Aufstehen und zum lebendigen Glauben zu bewegen. Er droht und tröstet, er entwirft die herrlichsten Bilder, um zu locken. Er spricht zugleich die schärfsten Mahnungen aus, um die Trägen, Gleichgültigen zu erschrecken. In unserem Vers macht er auf eine wichtige Tatsache aufmerksam. Die Gnade Gottes ist eine dynamische Größe. Sie ist Bewegung, sie geht weiter. Wer in der Gnade bleiben will, muß in Bewegung bleiben.Man kann sie verpassen, wie man einen Zug verpaßt. Man kann hinter ihr zurückbleiben wie ein Läufer, der den Anschluß an die Mannschaft verliert.
Gnade ist also eine ernst zu nehmende Sache. Wir können nichts dafür, wenn sie uns erreicht. Gott schenkt uns die Chance des neuen Lebens ohne unser Verdienst und ohne unsere Leistung. Daß wir die Chance nutzen, ist unsere Sache. Eine Chance kann auch wieder verlorengehen.
Wie sieht das praktisch aus? Mit dem Beginn des neuen Lebens gibt Gott uns Chancen in verschiedenen Lebensbereichen, z. B. die Chance zur Verwandlung unseres Wesens und Charakters. Er schenkt uns Schwierigkeiten, an denen wir wachsen können. Wer nicht aufpaßt, kann diese Gelegenheiten zum Wachstum verpassen.
Er kann z. B. den Schwierigkeiten ausweichen, indem er durch Orts- oder Gemeindewechsel den unangenehmen Menschen aus dem Weg geht. Ein Gemeindeleiter bekommt vielleicht einen Mitarbeiter in seinen Vorstand, der bei jeder Gelegenheit die Einmütigkeit stört. Vielleicht geht er allen mit seinem Querulantentum auf die Nerven. Wie leicht sind wir geneigt, einen solchen Menschen mit Mitteln der Diplomatie aus dem Kreis hinauszumanipulieren. Oft wird durch die Gelegenheit verpaßt, Geduld, Ausdauer und Demut zu lernen.
Für Eltern sind häufig ihre Kinder die Chance Gottes, das zu lernen, was sie in der eigenen Entwicklung nicht gelernt haben. Wie töricht, die Schuld für gespannte Familienverhältnisse den Kindern anzulasten.
Gott gibt uns auch Impulse, unangenehme Dinge sofort zu erledigen, damit das, was noch mit geringem Einsatz zu erledigen ist, sich nicht lawinenartig zu einem großen Problem entwickelt. Manch einer schiebt die innere Nötigung, einmal sein Leben zu bereinigen und zu beichten, immer wieder hinaus, bis er so sehr in Sünde gerät, daß das Beichten sich erübrigt, weil sein Versagen inzwischen offenkundig geworden ist. Was geht oft alles kaputt, wenn dort, wo die Sünde noch zu besiegen war, nicht angepackt wurde und die heilende Gnade nicht zum Zuge kam.
Wer so ausweicht, kommt nicht nur in den Nachteil, an der entsprechend schwachen Stelle nicht wachsen zu können, das heißt unerzogen zu bleiben, sondern er nötigt Gott, mit ihm Umwege zu machen.
Da Gott uns liebt und uns ans Ziel bringen will, wird er uns eine neue Chance (Gnade) geben. Die ist oft schmerzhafter und unangenehmer als die erste. Viele von uns haben eine ähnliche Erfahrung gemacht, als sie meinten, man könne einer Zahnbehandlung durch Schmerztabletten entgehen. Das hilft vielleicht für den Augenblick, wird aber nachher um so unangenehmer.
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(Wilhard Becker, „Keine Rolltreppe zum Himmel“, 1973)
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